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Pole, Partisan, Priester
13.02.2009 | 15:40 | Von Gerhard Zeillinger (Die Presse)
Dem Tod im Ghetto ist der Jude Daniel entkommen, als Mönch will er die Vision einer jüdisch-christlichen Urkirche in Jerusalem verwirklichen. Ljudmila Ulitzkaja skizziert einen seltsamen Heiligen.
Die Geschichte oder vielmehr ihre einzelnen Teile haben alle ihren Ursprung 1942 im Ghetto von Emsk. Was mit der planmäßigen Auslöschung der weißrussischen Juden beginnt, läuft Jahrzehnte später auf einen theologischen Brennpunkt zu: auf eine soziale und religiöse Wiedererweckung des Urchristentums in Israel. Im Zentrum steht dabei der Karmeliterbruder Daniel Stein, polnischer Jude, Dolmetscher für die Gestapo, Retter von 300 Juden, Partisan, zuletzt katholischer Priester, der eine religiöse und soziale Vision hat und damit an den Ursprungsort der drei großen monotheistischen Weltreligionen zurückkehrt. Dort soll sich nicht nur die Sinnstiftung seines Lebens vollziehen, alle Geretteten sollen der Spur ins „Heilige Land“ folgen können, und damit soll gleichsam die ganze Welt versöhnt werden.
Ob das der Stoff für einen großen Roman unserer Zeit sein kann? Wir leben in Europa in einer weitgehend entkonfessionalisierten Gesellschaft, und die politische Realität im früheren Palästina ist weit entfernt von visionären Grundwerten einer jüdisch-christlichen Urkirche. Man wird auch einer so großartigen Autorin wie Ljudmila Ulitzkaja nicht unterstellen wollen, derart von der russischen Orthodoxie beseelt zu sein, dass sie dieser Vision zielstrebig ein literarisches Refugium schaffen wollte. Ich kann mir nur keinen deutschsprachigen Autor vorstellen, der so beherzt das Porträt eines religiösen Idealisten entwerfen würde, „der eine Atmosphäre von Liebe, Mitgefühl und Freude verbreitete“ und „gegenseitiges Verständnis“ zur politischen Realität machen wollte.
Umso erstaunlicher, wenn die Autorin dabei auch das Spannungsverhältnis zwischen Christen- und Judentum, zwischen Israelis und Arabern problematisiert oder die uralte Frage: Wer ist Jude beziehungsweise darf Jude sein? Da wird jener Zwiespalt sichtbar, den die Autorin bereits in der Einleitung anführt: „Aus der Sicht der orthodoxen Juden war er kein ,richtiger‘ Jude, und aus der Sicht der katholischen Kirche war er ein zweifelhafter Priester. Der Staat Israel wollte ihm die Staatsbürgerschaft verweigern, und begraben wurde er auf einem arabischen Friedhof in Haifa.“ Diese Diskrepanzen werden aufgelöst im Bild eines unorthodoxen Heiligen, der über die Konfessionen hinaus ansprechen will. Ob die Realität des Lesers so viel Idealismus und Sendungsbewusstsein angesichts einer völlig konträren politischen Wirklichkeit erträgt, ist fraglich.
Überzeugend ist aber die Vita dieses Bruders Daniel, die ihn quer durch Osteuropa durch Todesgefahren und „Wunder“ und schließlich in den Orden der Karmeliter führt. Als er sich 1945 in Krakau um den einzigen freien Platz im Kloster bewirbt, hat ein zweiter Kandidat das Nachsehen: der spätere Papst Karol Wojtyla, dem Daniel Stein später im Vatikan noch einmal begegnet. Da ist er längst Karmelitermönch in Haifa und arbeitet in Israel am Aufbau einer pluralistischen katholischen Gemeinde nach dem Vorbild der Kirche des Jakobus. Er verfolgt das utopische Ziel, das Zentrum der christlichen Kirchen nach Jerusalem zu verlegen und einen Dialog zwischen Judentum, Islam und Christentum herzustellen.
Es gelingt immerhin, eine Gemeinde der „Entwurzelten“ aufzubauen: Emigranten aus Osteuropa, christliche Araber, katholisch-jüdische Ehepaare, die „nicht mehr wussten, wo sie hingehörten“, Kranke, Verrückte, Verzweifelte, die auch in Israel schwer in ein neues Leben finden können.
Wahrhaftigkeit versus Wahrheit
Daniel Stein wird als historische Person vorgeführt, die Oswald Rufeisen geheißen hat. Die Biografie ihrer literarischen Figur, lässt uns die Autorin wissen, sei „fast identisch mit der ihres realen Vorbilds“. Doch so sehr der historische Rahmen den Tatsachen entspreche, ist vieles verändert oder erfunden. „Mir war es wichtiger, der literarischen Wahrhaftigkeit zu folgen als der historischen Wahrheit.“ Dürfen wir Ulitzkaja wörtlich nehmen? Ist sie ihrem Helden wirklich einmal in Moskau begegnet? Seine abenteuerliche Biografie ist verbürgt. Man findet ihn im Internet als „Mann aus der Löwengrube“. Im Gegensatz freilich zu anderen Figuren, die großteils erfunden sind und uns, so die Autorin, als „Phantome“ begegnen.
Sie aber erzählen die Geschichte, wir haben es mit vielen Sprechern und Perspektiven zu tun. Es gibt keinen sichtbaren „Erzähler“, dafür viele Informanten. Das bedingt eine disparate Erzählstruktur, die dem Leser ein gutes Gedächtnis abverlangt, um über diverse Zeitebenen, Orte und Personen den Überblick zu behalten. Personen, die das Schicksal im Ghetto von Emsk geteilt haben, Weggefährten und Einwanderer, die alle irgendwann in Israel mit Stein direkt oder indirekt in Berührung kommen.
Aus deren Erinnerungen, Notizen, Briefen zitiert die Autorin, der alles zum narrativen Material wird: Gedächtnisprotokolle, Telegramme, Zeitungsberichte, Vorträge. All dies ist überzeugend zu einem Roman montiert, in dem Geschichte und Religion einander durchdringen und in den die einzelnen Lebensgeschichten zielbewusst verwoben sind. Mit dem Effekt, dass vieles hier nach naivem Glauben aussieht, angehaucht vom Geist einer Friedensbewegung, die so gut gemeint wie irrational ist. Man mag diesen Bruder Daniel einen Heiligen, einen Gerechten nennen, „nach menschlichen Maßstäben“, so die Autorin am Ende, „ist er gescheitert – nach seinem Tod zerfiel seine Gemeinde“.
Gerade das wird aber nicht thematisiert. Überhaupt kann man über die ein wenig fehlende kritische Distanz geteilter Meinung sein. Erst recht über Sätze, die Wissenschaft und Religion als Einheit propagieren. Manchmal sieht die Wirklichkeit doch ein wenig anders aus, etwa, wenn von der Ermordung eines katholischen Arabers und seiner Familie die Rede ist oder vom Irrsinn eines russischen Auswanderers, der als ultranationalistischer Siedler in Hebron nur noch im Sinn hat, „die Thora zu lesen und eine Maschinenpistole zu bedienen“. „Die Juden“, wird Daniel einmal zitiert, „beten um die Vernichtung der Araber zum selben Gott, zu dem die Araber um die Vernichtung der Juden beten. Was soll Er tun?“
Egal, was nun historisch oder fiktiv ist, der Daniel Stein, den uns Ulitzkaja vorführt, sieht sehr nach einer Projektion aus, in die noch dazu die schrecklichen Ereignisse des 20.Jahrhunderts in Richtung Heilserwartung verpackt sind. Das alles zum Zwecke der „Verständigung und Versöhnung“. Selbstredend eine missionarische Aufgabe, aber nicht unbedingt die der Literatur. ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2009)
Pole, Partisan, Priester
13.02.2009 | 15:40 | Von Gerhard Zeillinger (Die Presse)
Dem Tod im Ghetto ist der Jude Daniel entkommen, als Mönch will er die Vision einer jüdisch-christlichen Urkirche in Jerusalem verwirklichen. Ljudmila Ulitzkaja skizziert einen seltsamen Heiligen.
Die Geschichte oder vielmehr ihre einzelnen Teile haben alle ihren Ursprung 1942 im Ghetto von Emsk. Was mit der planmäßigen Auslöschung der weißrussischen Juden beginnt, läuft Jahrzehnte später auf einen theologischen Brennpunkt zu: auf eine soziale und religiöse Wiedererweckung des Urchristentums in Israel. Im Zentrum steht dabei der Karmeliterbruder Daniel Stein, polnischer Jude, Dolmetscher für die Gestapo, Retter von 300 Juden, Partisan, zuletzt katholischer Priester, der eine religiöse und soziale Vision hat und damit an den Ursprungsort der drei großen monotheistischen Weltreligionen zurückkehrt. Dort soll sich nicht nur die Sinnstiftung seines Lebens vollziehen, alle Geretteten sollen der Spur ins „Heilige Land“ folgen können, und damit soll gleichsam die ganze Welt versöhnt werden.
Ob das der Stoff für einen großen Roman unserer Zeit sein kann? Wir leben in Europa in einer weitgehend entkonfessionalisierten Gesellschaft, und die politische Realität im früheren Palästina ist weit entfernt von visionären Grundwerten einer jüdisch-christlichen Urkirche. Man wird auch einer so großartigen Autorin wie Ljudmila Ulitzkaja nicht unterstellen wollen, derart von der russischen Orthodoxie beseelt zu sein, dass sie dieser Vision zielstrebig ein literarisches Refugium schaffen wollte. Ich kann mir nur keinen deutschsprachigen Autor vorstellen, der so beherzt das Porträt eines religiösen Idealisten entwerfen würde, „der eine Atmosphäre von Liebe, Mitgefühl und Freude verbreitete“ und „gegenseitiges Verständnis“ zur politischen Realität machen wollte.
Umso erstaunlicher, wenn die Autorin dabei auch das Spannungsverhältnis zwischen Christen- und Judentum, zwischen Israelis und Arabern problematisiert oder die uralte Frage: Wer ist Jude beziehungsweise darf Jude sein? Da wird jener Zwiespalt sichtbar, den die Autorin bereits in der Einleitung anführt: „Aus der Sicht der orthodoxen Juden war er kein ,richtiger‘ Jude, und aus der Sicht der katholischen Kirche war er ein zweifelhafter Priester. Der Staat Israel wollte ihm die Staatsbürgerschaft verweigern, und begraben wurde er auf einem arabischen Friedhof in Haifa.“ Diese Diskrepanzen werden aufgelöst im Bild eines unorthodoxen Heiligen, der über die Konfessionen hinaus ansprechen will. Ob die Realität des Lesers so viel Idealismus und Sendungsbewusstsein angesichts einer völlig konträren politischen Wirklichkeit erträgt, ist fraglich.
Überzeugend ist aber die Vita dieses Bruders Daniel, die ihn quer durch Osteuropa durch Todesgefahren und „Wunder“ und schließlich in den Orden der Karmeliter führt. Als er sich 1945 in Krakau um den einzigen freien Platz im Kloster bewirbt, hat ein zweiter Kandidat das Nachsehen: der spätere Papst Karol Wojtyla, dem Daniel Stein später im Vatikan noch einmal begegnet. Da ist er längst Karmelitermönch in Haifa und arbeitet in Israel am Aufbau einer pluralistischen katholischen Gemeinde nach dem Vorbild der Kirche des Jakobus. Er verfolgt das utopische Ziel, das Zentrum der christlichen Kirchen nach Jerusalem zu verlegen und einen Dialog zwischen Judentum, Islam und Christentum herzustellen.
Es gelingt immerhin, eine Gemeinde der „Entwurzelten“ aufzubauen: Emigranten aus Osteuropa, christliche Araber, katholisch-jüdische Ehepaare, die „nicht mehr wussten, wo sie hingehörten“, Kranke, Verrückte, Verzweifelte, die auch in Israel schwer in ein neues Leben finden können.
Wahrhaftigkeit versus Wahrheit
Daniel Stein wird als historische Person vorgeführt, die Oswald Rufeisen geheißen hat. Die Biografie ihrer literarischen Figur, lässt uns die Autorin wissen, sei „fast identisch mit der ihres realen Vorbilds“. Doch so sehr der historische Rahmen den Tatsachen entspreche, ist vieles verändert oder erfunden. „Mir war es wichtiger, der literarischen Wahrhaftigkeit zu folgen als der historischen Wahrheit.“ Dürfen wir Ulitzkaja wörtlich nehmen? Ist sie ihrem Helden wirklich einmal in Moskau begegnet? Seine abenteuerliche Biografie ist verbürgt. Man findet ihn im Internet als „Mann aus der Löwengrube“. Im Gegensatz freilich zu anderen Figuren, die großteils erfunden sind und uns, so die Autorin, als „Phantome“ begegnen.
Sie aber erzählen die Geschichte, wir haben es mit vielen Sprechern und Perspektiven zu tun. Es gibt keinen sichtbaren „Erzähler“, dafür viele Informanten. Das bedingt eine disparate Erzählstruktur, die dem Leser ein gutes Gedächtnis abverlangt, um über diverse Zeitebenen, Orte und Personen den Überblick zu behalten. Personen, die das Schicksal im Ghetto von Emsk geteilt haben, Weggefährten und Einwanderer, die alle irgendwann in Israel mit Stein direkt oder indirekt in Berührung kommen.
Aus deren Erinnerungen, Notizen, Briefen zitiert die Autorin, der alles zum narrativen Material wird: Gedächtnisprotokolle, Telegramme, Zeitungsberichte, Vorträge. All dies ist überzeugend zu einem Roman montiert, in dem Geschichte und Religion einander durchdringen und in den die einzelnen Lebensgeschichten zielbewusst verwoben sind. Mit dem Effekt, dass vieles hier nach naivem Glauben aussieht, angehaucht vom Geist einer Friedensbewegung, die so gut gemeint wie irrational ist. Man mag diesen Bruder Daniel einen Heiligen, einen Gerechten nennen, „nach menschlichen Maßstäben“, so die Autorin am Ende, „ist er gescheitert – nach seinem Tod zerfiel seine Gemeinde“.
Gerade das wird aber nicht thematisiert. Überhaupt kann man über die ein wenig fehlende kritische Distanz geteilter Meinung sein. Erst recht über Sätze, die Wissenschaft und Religion als Einheit propagieren. Manchmal sieht die Wirklichkeit doch ein wenig anders aus, etwa, wenn von der Ermordung eines katholischen Arabers und seiner Familie die Rede ist oder vom Irrsinn eines russischen Auswanderers, der als ultranationalistischer Siedler in Hebron nur noch im Sinn hat, „die Thora zu lesen und eine Maschinenpistole zu bedienen“. „Die Juden“, wird Daniel einmal zitiert, „beten um die Vernichtung der Araber zum selben Gott, zu dem die Araber um die Vernichtung der Juden beten. Was soll Er tun?“
Egal, was nun historisch oder fiktiv ist, der Daniel Stein, den uns Ulitzkaja vorführt, sieht sehr nach einer Projektion aus, in die noch dazu die schrecklichen Ereignisse des 20.Jahrhunderts in Richtung Heilserwartung verpackt sind. Das alles zum Zwecke der „Verständigung und Versöhnung“. Selbstredend eine missionarische Aufgabe, aber nicht unbedingt die der Literatur. ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2009)