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Daniel Stein
Die großen Themen des 20. Jahrhunderts

Bislang war Ljudmila Ulitzkaja eine beliebte literarische Stimme aus dem neuen Russland, weil sie für einen bestimmten Typ von Prosa stand, für Prosa, die es schaffte, in gut verkäuflichen Unterhaltungsromanen mit Bestsellerstatus existenzielle Fragen abzuhandeln. Seit ihr jüngster Roman "Daniel Stein" nun in deutscher Übersetzung von Ganna-Maria Braungart vorliegt, gilt es, dieses Bild zu erweitern: "Daniel Stein" ist weit mehr als gut bekömmliche literarische Kost auf intellektuellem Niveau.

Dabei sind es auch diesmal nicht Stil und kunstvolle Beherrschung von Sprache, die Ulitzkajas Erzählen so überragend machen. Eher gereicht es der Autorin zum Vorteil, dass sie eine ihr gemäße literarische Form gefunden hat - die Collage in Form von Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Tonbandaufnahmen, die eine klare und direkte Sprache des alltäglichen Gebrauchs rechtfertigen - eine literarische Form, die geschickt kaschiert, was man der Autorin sonst als Manko vorwerfen könnte.
Zwischen Holocaust und Nahostkonflikt
Ich bin keine Schriftstellerin, und dieses Buch ist kein Roman, sondern eine Collage. Ich schneide Stücke aus meinem eigenen Leben und aus dem Leben anderer Menschen und füge "ohne Kitt (...) lebendige Erzählung aus den Fragmenten ihrer Tage".

Dieses Geständnis stammt aus einem der Briefe der Autorin, die sie ihrer Roman-Collage beigefügt hat, um die Entstehung des Buches begleitend zu kommentieren. Das Ergebnis ist spektakulär: ein Roman, der sich zwischen historischer Realität und literarischer Fiktion bewegt, der in Osteuropa und Israel angesiedelt ist, mit geografischem Ausblick auf Russland und Amerika und mit historischer Spannweite zwischen Holocaust und Nahostkonflikt.

In erfundenen und real zitierten Dokumenten kommen Juden und Araber, Russen und Amerikaner, Polen und Deutsche zu Wort, die in einem dichten Beziehungs- und Schicksalsgeflecht zueinander stehen. In der Nachverfolgung ihrer Lebensschicksale werden die großen Themen des 20. Jahrhunderts ebenso abgebildet wie in philosophischen und theologischen Diskursen.
Schauplatz Israel
Die Auseinandersetzung mit religiösen Fragen spielt eine große Rolle in diesem Buch, denn der Protagonist des Romans ist ein polnischer Jude, der zum Christentum konvertiert und Mönch wird, und der Schauplatz seines Wirkens ist Israel; da kommt man ohne Religion nicht aus.

Die Biografie dieser Hauptfigur - Daniel Stein heißt sie im Roman - ist historisch verbürgt, um sie herum gruppiert sind fiktive Figuren. In Daniel Steins Lebensschicksal sind die Themen des 20. Jahrhunderts zusammengefasst: Den Holocaust überlebt er als Partisan in den weißrussischen Wäldern und als Dolmetscher der Gestapo, als solchem gelingt es ihm, die Flucht von 300 Juden aus dem Ghetto zu organisieren. Er wird verraten und verdankt einem SS-Major sein Leben.

Nach der Befreiung Weißrusslands durch die Rote Armee dolmetscht er dann für den NKWD. Mehrfach gerät er in Lebensgefahr, dreimal wird er zum Tod verurteilt, immer retten ihn glückliche Zufälle, ein ganzes Jahr verstecken ihn Nonnen in ihrem Kloster. Dort findet er den spirituellen Weg; er betrachtet seine Rettung Gott geschuldet.

Er wird katholischer Priester, tritt in den Karmeliterorden ein und geht nach Israel. Dort begründet er eine alternative christliche Gemeinde nach dem Vorbild der Kirche des Jakobus, einer der ersten christlichen Gemeinden in Jerusalem, die noch vor der Spaltung zwischen Christen und Juden entstanden war.
Mit Johannes Paul II. beim Abendessen
Gelebte Nächstenliebe stellt Daniel über starre Dogmen, die Liturgie wandelt er nach eigenem Ermessen ab, auf das Credo etwa verzichtet er, denn die Dreifaltigkeit lehnt er als heidnisch-griechisches Importgut ab. Natürlich gerät er in Konflikt mit der Amtskirche, erhält aber von Johannes Paul II., dem einstigen Priesterkollegen aus Polen, dessen persönlichen Segen für seine Arbeit.

Im Evangelium finden wir die jüdische Frage: Rabbi, was muss ich tun, um Erlösung zu erlangen? Und der Lehrer antwortete nicht: Glaube auf diese oder jene Weise! Er sagt: Geh und tue dies und jenes! (...) Bei den Juden wie bei den Christen steht der Mensch im Mittelpunkt, nicht Gott. Gott hat niemand je gesehen. Im Menschen muss man Gott sehen. Im Menschen Jesus Christus muss man Gott sehen. Bei den Griechen aber steht die Wahrheit im Mittelpunkt. Das Prinzip Wahrheit. Und im Namen dieses Prinzips kann man den Menschen vernichten. Ich brauche keine Wahrheit, die den Menschen vernichtet. Mehr noch: Wer den Menschen vernichtet, vernichtet auch Gott.

Diese Worte lässt Ulitzkaja ihren Protagonisten bei einem Abendessen mit Johannes Paul II. sagen. Die Stelle ist zentral für dieses Buch: Hier taucht ein Gedanke auf, der auch an anderer Stelle zu finden ist und der an Radikalität schwerlich übertroffen werden kann: Gott ist im Mord an den Juden mit gemordet worden - es sind also die Menschen, die für Gott Verantwortung tragen.
Die Kultur, auf der wir stehen
Von zentraler Bedeutung ist auch Daniels Rolle als Brückenbauer zwischen Judentum und Christentum. In dieser Rolle wirkt er als Therapeut für die Europäer und ihr Verhältnis zur christlich-abendländischen Kultur. Indem er das Judentum in seiner Bedeutung für die abendländische Kultur wieder in sein Recht setzt, kann auch dieser Kultur, die aus dem Judentum hervorgegangen ist, neuer Respekt entgegengebracht werden. In Daniels Verständnis ist das Christentum das erweiterte Judentum, in dem die Pflicht vor Gott mit dem Prinzip der Freiwilligkeit in der Liebe vertauscht wird.

Es ist die Kultur, auf der wir stehen, in der wir unsere Wurzeln haben, so lautet eine zentrale Botschaft des Buches, und man muss sich mit ihr aussöhnen wie mit der eigenen Familie, die man sich auch nicht aussuchen kann. Wiedergutmachung also im kulturtherapeutischen Sinn: abrechnen und rehabilitieren, zurückgehen zu den eigenen Wurzeln, eigene Fehler und Schwächen eingestehen, verzeihen und versöhnen.

Ich hasse die Judenfrage. (...) Es ist die schlimmste Frage in der Geschichte unserer Zivilisation. Sie muss aufgehoben werden, weil sie fiktiv ist, weil sie nicht existiert. Warum drehen sich geisteswissenschaftliche, kulturelle und philosophische Diskurse – ganz zu schweigen von rein theologischen – immer um die Juden? Gott hat sein auserwähltes Volk viel schlimmer verhöhnt als jedes andere! Er wusste doch, dass der Mensch Gott nicht mehr lieben kann als sich selbst. Das gelingt nur wenigen Auserwählten. Daniel war so jemand. Und noch ein paar andere. Für diese Menschen existiert die Judenfrage nicht. Sie muss aufgehoben werden!
Zeitgemäße Form des Diskurses
Es ist kein Zufall, dass dieses Buch in Russland geschrieben wurde. Dort gibt es eine lange Tradition der immer wieder gescheiterten messianische Idee, von der mittelalterlichen Vision vom Dritten Rom bis zum Bolschewismus, als der Menschheit das Heil im Diesseits versprochen wurde und der Preis dafür mit dem unermesslichen Leid eines ganzen Volkes bezahlt werden musste.

In Russland gibt es auch eine besondere literarische Tradition der Gottsuchenden, von Dostojewskij und Tolstoj bis zum Dichter, Religionsphilosophen und Mystiker Wladimir Solowjew. Diese Tradition greift Ulitzkaja auf, als Russin und als Jüdin, und sie hat in diesem Buch eine zeitgemäße Form des Diskurses gefunden. Ihre Fragen kreisen um die Existenz Gottes, Erbsünde, Erlösung, Sühne, Gut und Böse, Täter und Opfer, und sie lässt diese Fragen ganz unterschiedlich beantworten, von Atheisten und Agnostikern, Idealisten und Weisen, Verblendeten und Fanatikern.

Die religiöse Thematik mag für so manchen potenziellen Leser befremdend wirken in einer Zeit, in der in einer europäischen Hauptstadt eine Werbekampagne zur Erkenntnis aufruft, dass es Gott wahrscheinlich gar nicht gibt. Das Buch sei all jenen anempfohlen, die diese Thematik nicht den Fundamentalisten überlassen wollen. Darüber hinaus hat die Begegnung mit all jenen Figuren, deren Schicksale in variationsreicher Härte gezeigt wird, und deren Menschlichkeit, Zweifel und Verirrungen Ulitzkaja so liebevoll offen legt, gerade zu kathartische Energie. Ein Buch, das berührt.
Text: Gudrun Braunsperger

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

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Das Buch der Woche, Freitag, 13. Februar 2009, 16:55 Uhr