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Dramatische Jahrhundertgeschichte
Ljudmila Ulitzkaja: "Daniel Stein". Carl Hanser Verlag, München 2009, 485 Seiten
Der polnische Jude Daniel Stein arbeitete im Zweiten Weltkrieg als Übersetzer für die deutschen Besatzer, um seine Haut zu retten. Zugleich war er aber Partisan und organisierte eine Flucht aus einem polnischen Ghetto. Nach dem Krieg konvertierte er und wurde katholischer Priester, gründete eine Gemeinde in Israel nach dem Vorbild der Urchristen. Dieses ohnehin schon romanhafte Leben reichert Ljudmilla Ulitzkaja noch mit zahlreichen Briefen und Tagebucheinträgen an.
Daniel Stein ist ein polnischer Jude mit deutschem Hintergrund, der beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mitten in die Verwerfungen seiner Zeit gerät. Ostpolen, Weißrussland, Litauen, das ist das geographische Terrain dieser Verwerfungen, die für Daniel Stein nach der Besetzung durch deutsche Truppen zunächst darin bestehen, dass er für die Besatzer als Dolmetscher und Übersetzer arbeiten muss. Zugleich aber schmuggelt er Waffen und Informationen ins Judenghetto seiner Stadt. Er wird auf diese Weise zum Organisator einer Flucht, die 300 Juden das Leben retten wird.
Von seinen "Arbeitgebern" daraufhin zum Tod verurteilt, gelingt ihm die Flucht zu den Partisanen, die ihm freilich misstrauen und ihn töten wollen, was im letzten Moment verhindert wird durch die Fürsprache eines Freundes. Als später die Rote Armee die Gegend übernimmt, ist er als vermeintlicher Kollaborateur erneut dem Tod nahe. Auf geradezu wundersame Weise entkommt er dem sicheren Tod jedes Mal, und diese "Wunder" führen ihn zu religiöser Spiritualität.
Es ist nicht unwesentlich, dass er diese Turbulenzen überstehen konnte, weil ihn katholische Nonnen fünfzehn Monate lang versteckten - Daniel Stein wird nach dem Krieg in Polen katholischer Priester. Von hier aus schifft er sich 1959 nach Israel ein, und erneut ist er eine höchst ungewöhnliche Gestalt: ein Jude und Katholik, der in Haifa eine katholische Gemeinde aufbaut.
Orientiert an den Werten des "Urchristentums", lehnt er eine "politische" und dogmatische Kirche ab, was ihn in Konflikt mit dem Vatikan bringt. Es wird ihm schließlich verboten, die heilige Messe zu zelebrieren, das Dokument freilich erreicht ihn nicht mehr, denn Daniel Stein stirbt im Dezember 1995 bei einem Autounfall, der womöglich ein Attentat war.
Dieses an sich bereits "romanhafte" Leben reichert die Autorin mit zahlreichen Biographien aus dem Umfeld des Helden an. Sie tut dies, indem sie eine Vielzahl von wechselnden Personen sich äußern lässt über diesen Daniel Stein - in Form von Briefen (die manchmal auch von ihm stammen), Gesprächen oder Tagebucheinträgen.
Da dieser Priester vor allem Seelsorger ist, fließen in diese vorgeblich dokumentarischen Textpassagen, aus denen die Romancollage ausschließlich besteht, immer die Lebenssituationen der Beteiligten ein. Auf diese Weise entsteht ein enorm dicht gewebtes Textgeflecht, das in höchst ausbalancierter Form alles enthält: eine dramatische Jahrhundertgeschichte und religionshistorische Diskussionen, die - beide - bis in die Gegenwart reichen, sowie mit feinster Hand gezeichnete Menschenschicksale, die sich auf einer klein gewordenen Welt abspielen. Man kann es ohne Umschweife sagen: Ljudmila Ulitzkaja ist mit diesem Roman in neue Höhen vorgestoßen.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Dramatische Jahrhundertgeschichte
Ljudmila Ulitzkaja: "Daniel Stein". Carl Hanser Verlag, München 2009, 485 Seiten
Der polnische Jude Daniel Stein arbeitete im Zweiten Weltkrieg als Übersetzer für die deutschen Besatzer, um seine Haut zu retten. Zugleich war er aber Partisan und organisierte eine Flucht aus einem polnischen Ghetto. Nach dem Krieg konvertierte er und wurde katholischer Priester, gründete eine Gemeinde in Israel nach dem Vorbild der Urchristen. Dieses ohnehin schon romanhafte Leben reichert Ljudmilla Ulitzkaja noch mit zahlreichen Briefen und Tagebucheinträgen an.
Daniel Stein ist ein polnischer Jude mit deutschem Hintergrund, der beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mitten in die Verwerfungen seiner Zeit gerät. Ostpolen, Weißrussland, Litauen, das ist das geographische Terrain dieser Verwerfungen, die für Daniel Stein nach der Besetzung durch deutsche Truppen zunächst darin bestehen, dass er für die Besatzer als Dolmetscher und Übersetzer arbeiten muss. Zugleich aber schmuggelt er Waffen und Informationen ins Judenghetto seiner Stadt. Er wird auf diese Weise zum Organisator einer Flucht, die 300 Juden das Leben retten wird.
Von seinen "Arbeitgebern" daraufhin zum Tod verurteilt, gelingt ihm die Flucht zu den Partisanen, die ihm freilich misstrauen und ihn töten wollen, was im letzten Moment verhindert wird durch die Fürsprache eines Freundes. Als später die Rote Armee die Gegend übernimmt, ist er als vermeintlicher Kollaborateur erneut dem Tod nahe. Auf geradezu wundersame Weise entkommt er dem sicheren Tod jedes Mal, und diese "Wunder" führen ihn zu religiöser Spiritualität.
Es ist nicht unwesentlich, dass er diese Turbulenzen überstehen konnte, weil ihn katholische Nonnen fünfzehn Monate lang versteckten - Daniel Stein wird nach dem Krieg in Polen katholischer Priester. Von hier aus schifft er sich 1959 nach Israel ein, und erneut ist er eine höchst ungewöhnliche Gestalt: ein Jude und Katholik, der in Haifa eine katholische Gemeinde aufbaut.
Orientiert an den Werten des "Urchristentums", lehnt er eine "politische" und dogmatische Kirche ab, was ihn in Konflikt mit dem Vatikan bringt. Es wird ihm schließlich verboten, die heilige Messe zu zelebrieren, das Dokument freilich erreicht ihn nicht mehr, denn Daniel Stein stirbt im Dezember 1995 bei einem Autounfall, der womöglich ein Attentat war.
Dieses an sich bereits "romanhafte" Leben reichert die Autorin mit zahlreichen Biographien aus dem Umfeld des Helden an. Sie tut dies, indem sie eine Vielzahl von wechselnden Personen sich äußern lässt über diesen Daniel Stein - in Form von Briefen (die manchmal auch von ihm stammen), Gesprächen oder Tagebucheinträgen.
Da dieser Priester vor allem Seelsorger ist, fließen in diese vorgeblich dokumentarischen Textpassagen, aus denen die Romancollage ausschließlich besteht, immer die Lebenssituationen der Beteiligten ein. Auf diese Weise entsteht ein enorm dicht gewebtes Textgeflecht, das in höchst ausbalancierter Form alles enthält: eine dramatische Jahrhundertgeschichte und religionshistorische Diskussionen, die - beide - bis in die Gegenwart reichen, sowie mit feinster Hand gezeichnete Menschenschicksale, die sich auf einer klein gewordenen Welt abspielen. Man kann es ohne Umschweife sagen: Ljudmila Ulitzkaja ist mit diesem Roman in neue Höhen vorgestoßen.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski