http://www.reller-rezensionen.de/belletristik/ulitzkaja-sonetschka.htm
Augenblicke des Glücks
Ljudmila Ulitzkaja
Sonetschka und andere Erzählungen
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Lübbe Verlag, Bergisch-Gladbach 1999, 287 S.
Als ich Ljudmila Ulitzkajas Sonetschka las, musste ich immer wieder an Anton Tschechows genau einhundert Jahre zuvor erschienene Meistererzählung "Herzchen" denken. In "Herzchen" ist Olenka erst die Frau von Kukin, dem Besitzer eines Vergnügungsparks mit Theater, dann die Frau Postawalows, dem Verwalter eines Holzlagers, dann ist sie mit dem Veterinär Smirnin zusammen. Mit Kukin liebt Olenka das Theater, das Bemerkenswerteste, das Wichtigste und Notwendigste auf der Welt; mit Pustalow liegt für sie in den Worten Balken, Knüppelholz, Bretter, Sperrholz, Dachlatte, Lafette, Schalbrett... geradezu etwas Rührendes; mit Smirnin parliert sie von der Rinderpest, der Perlsucht und vom städtischen Schlachthof. Olenka, von allen liebevoll "Herzchen" genannt, hat nur eine eigene Meinung, wenn sie liebt, und stets die Meinung dessen, den sie liebt.
Ulitzkajas Sonetschka vertieft sich von frühester Kindheit an in Bücher. Ihr Bruder Jefrem wiederholt ständig denselben Scherz: "Vom endlosen Lesen hat Sonetschkas Hintern die Form eines Stuhls angenommen." Ganze zwanzig Jahre lang liest Sonetschka fast ununterbrochen. "Sie sank in die Lektüre wie in eine Ohnmacht, die mit der letzten Buchseite endete." Die Begeisterung für die Literatur endete abrupt - mit ihrer Ehe mit Robert Viktorowitsch, einem Künstler, der malt und später künstlerisches Spielzeug für die Tochter Tanetschka entwirft. "Sonjas weibliches Vertrauen kannte keine Grenzen. Sie hatte das Talent ihres Mannes zum Glauben erhoben und betrachtete alles, was seine Hände schufen, mit ehrfürchtiger Begeisterung."
Oft wird die Ulitzkaja dafür gerühmt, dass ihre Erzählkunst an die Erzählkunst von Tschechow erinnert. Ganz sicher kennt sie Tschechows späte Erzählung "Herzchen", die Lew Tolstoj am meisten geschätzt hat und auf die sich Lenin stützte, als er im Oktober 1905 seine Notiz "Ein sozialdemokratisches Liebchen" schrieb. Aber wurde die Ulitzkaja tatsächlich durch "Herzchen" angeregt zu ihrer anrührenden Erzählung Sonetschka, für die sie 1996 mit dem französischen Prix Médicis für das beste ausländische Buch ausgezeichnet wurde?
Auch die beiden anderen Geschichten dieses Bandes - "Bronka" und "Zarte und grausame Mädchen" - erzählen vom Alltag russischer Frauen und Mädchen, die mit erstaunlicher Kraft den Widrigkeiten des Lebens begegnen und sich ihre eigenen Augenblicke des Glücks erkämpfen.
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de
Augenblicke des Glücks
Ljudmila Ulitzkaja
Sonetschka und andere Erzählungen
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Lübbe Verlag, Bergisch-Gladbach 1999, 287 S.
Als ich Ljudmila Ulitzkajas Sonetschka las, musste ich immer wieder an Anton Tschechows genau einhundert Jahre zuvor erschienene Meistererzählung "Herzchen" denken. In "Herzchen" ist Olenka erst die Frau von Kukin, dem Besitzer eines Vergnügungsparks mit Theater, dann die Frau Postawalows, dem Verwalter eines Holzlagers, dann ist sie mit dem Veterinär Smirnin zusammen. Mit Kukin liebt Olenka das Theater, das Bemerkenswerteste, das Wichtigste und Notwendigste auf der Welt; mit Pustalow liegt für sie in den Worten Balken, Knüppelholz, Bretter, Sperrholz, Dachlatte, Lafette, Schalbrett... geradezu etwas Rührendes; mit Smirnin parliert sie von der Rinderpest, der Perlsucht und vom städtischen Schlachthof. Olenka, von allen liebevoll "Herzchen" genannt, hat nur eine eigene Meinung, wenn sie liebt, und stets die Meinung dessen, den sie liebt.
Ulitzkajas Sonetschka vertieft sich von frühester Kindheit an in Bücher. Ihr Bruder Jefrem wiederholt ständig denselben Scherz: "Vom endlosen Lesen hat Sonetschkas Hintern die Form eines Stuhls angenommen." Ganze zwanzig Jahre lang liest Sonetschka fast ununterbrochen. "Sie sank in die Lektüre wie in eine Ohnmacht, die mit der letzten Buchseite endete." Die Begeisterung für die Literatur endete abrupt - mit ihrer Ehe mit Robert Viktorowitsch, einem Künstler, der malt und später künstlerisches Spielzeug für die Tochter Tanetschka entwirft. "Sonjas weibliches Vertrauen kannte keine Grenzen. Sie hatte das Talent ihres Mannes zum Glauben erhoben und betrachtete alles, was seine Hände schufen, mit ehrfürchtiger Begeisterung."
Oft wird die Ulitzkaja dafür gerühmt, dass ihre Erzählkunst an die Erzählkunst von Tschechow erinnert. Ganz sicher kennt sie Tschechows späte Erzählung "Herzchen", die Lew Tolstoj am meisten geschätzt hat und auf die sich Lenin stützte, als er im Oktober 1905 seine Notiz "Ein sozialdemokratisches Liebchen" schrieb. Aber wurde die Ulitzkaja tatsächlich durch "Herzchen" angeregt zu ihrer anrührenden Erzählung Sonetschka, für die sie 1996 mit dem französischen Prix Médicis für das beste ausländische Buch ausgezeichnet wurde?
Auch die beiden anderen Geschichten dieses Bandes - "Bronka" und "Zarte und grausame Mädchen" - erzählen vom Alltag russischer Frauen und Mädchen, die mit erstaunlicher Kraft den Widrigkeiten des Lebens begegnen und sich ihre eigenen Augenblicke des Glücks erkämpfen.
Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de