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Zwischen Realität und halluzinatorischer Innenwelt

Ljudmila Ulitzkaja
Reise in den siebenten Himmel
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Verlag Volk & Welt, Berlin 2001, 510 S.


Im russischen Original heißt Ulitzkajas Buch "Der Fall Kukotzki". Ist Kukotzki der Hauptheld dieses drei Generationen umfassenden Romans, der die ganze Sowjetära umspannt? Pawel Kukotzki, Abkömmling einer alten Medizinerfamilie, ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Gynäkologie. Vor Beginn des zweiten Weltkrieges rettete er durch eine fast aussichtslose Operation der jungen Jelena das Leben - und verliebt sich in die verheiratete Frau. Jelena zieht mit ihrer Tochter Tanja genau an dem Tag zu ihm, an dem die Nachricht eintreffen wird, dass ihr Mann an der Front gefallen ist. Diese schicksalhafte Fügung setzt sich in Jelena als Schuldkomplex fest. Gemeinsam mit der von Kukotzki über alles geliebten Stieftochter Tanja verbringen sie dennoch zehn glückliche Jahre miteinander. Ein von Pawel Kukotzki gedankenlos hingeworfener Satz setzt dem ein Ende... Obwohl beide das sehnsüchtige Bedürfnis haben, zu ihrer ehelichen Harmonie zurückzukehren, gelingt es ihnen nicht. Dies ein äußerst beeindruckender Fingerzeig der Autorin, seine Worte im Umgang mit den Mitmenschen unbedingt auf die berühmte Goldwaage zu legen.

Der Familienroman Reise in den siebenten Himmel birgt unglaublich viele Themen: Es geht um die Menschenwürde und um das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Moral, um die Legalisierung der Abtreibung*, um das Verbot der Genetik als Wissenschaft und um den Status des menschlichen Embryos im Zeichen der Gentechnologie, um den sowjetischen Antisemitismus, um das Ausscheren der Jugend aus dem alten Trott, um Liebe, Glück und Verzweiflung, um Schuld und Sühne, um Leben und Tod. Der Kern der epischen Familiensaga scheint mir der Konflikt zu sein zwischen dem totalitären Staat und dem einzelnen Bürger, zwischen öffentlichem Zwang und privatem Glücksstreben, zwischen Ideologie und Gewissen. Mir scheint, Doktor Kukotzki nimmt seinen Platz in der Literatur als Nachfahr von Pasternaks Doktor Shiwago ein: die beiden großen Einzelgänger leiden am gleichen System. Auf die Frage, was ihr Lieblingsthema sei, antwortete die Ulitzkaja nach einer Buchlesung: "Die Anthropologie. Selbst nach meiner Umstellung von der Biologie zum Schreiben blieb der Hauptgegenstand meiner Forschung immer der Mensch."

Der Roman umfasst drei Generationen, fast die gesamte Sowjetära, lässt den stalinschen Terror nicht aus, nicht den zweiten Weltkrieg, nicht den "Verrat" der jüdischen Ärzte... Zudem verliert Jelena so nach und nach ihr Gedächtnis. Was für eine Krankheit hat sie? Eine Art Alzheimer? Für mich ist sie, die technische Zeichnerin, die Hauptheldin des Buches. Überhaupt sind für Ljudmila Ulitzkaja eindrucksvolle Frauengestalten typisch: "Sonetschka", "Medea und ihre Kinder", "Olgas Haus", "Zarte und grausame Mädchen".

Die 1943 in Sibirien geborene Autorin - deren beide Großväter im Gulag saßen - studierte Biologie und arbeitete einige Jahre als Genetikerin an der Moskauer Akademie der Wissenschaften. 1969 wurde sie wegen der Vertreibung von "Samisdat"-Literatur entlassen. Zwanzig Jahre lang schlug sie sich mit Übersetzungen und allerlei publizistischen Gelegenheitsarbeiten durch, schrieb Theaterstücke, Filmszenarien, Texte für Ausstellungskataloge, war zwei Jahre lang Assistentin des künstlerischen Leiters des Moskauer "Jüdischen Musiktheaters". Der literarische Durchbruch kam mit der Novelle "Sonetschka". Jelenas Tochter Tanja trägt in Ljudmila Ulitzkajas drittem Roman deren autobiographischen Züge. Auch sie beginnt Biologie zu studieren, bricht ihr Studium aber Hals über Kopf ab, weil sie sich durch die Arbeit in einem medizinischen Labor als Mörderin fühlt. Ihr und ihrem kompromisslosen Ausbruch aus der "normalen" Gesellschaft widmet die Ulitzkaja viel Raum. Auch sie, die konsequente Aussteigerin ist eine Hauptheldin des Buches. Haupthelden oder nicht, alle Personen - auch der jüdische Genetiker Ilja Goldberg, der wieder und wieder in Lagerhaft gerät, die tiefreligiöse Haushälterin Wassilissa, die Pflegetochter Toma, deren Mutter bei einer illegalen Abtreibung gestorben war, Tanjas Tochter Shenja, die so behutsam mit ihrer wahnsinnigen (?) Großmutter Jelena umgeht - sind so eindrucksvoll geschildert, dass sie den Leser noch lange bewegen werden...

Der groß angelegte Roman umfasst vier Teile. Der zweite Teil allerdings - immerhin knapp einhundert Seiten - erscheint mir wie ein Fremdkörper innerhalb des Buches. Er schildert einen Traum (?) der verwirrten Jelena. In einer öden Landschaft laufen entstellte Menschen traumverloren dahin. Einige erkennen wir, es sind die Buchhelden, allen voran der "Kahlgeschorene", das ist Pawel Kukotzki. Führt er eine Schar von Sündern in die Hölle? Er, der aus der Sicht Jelenas selbst ein Sünder ist; denn er hat ungezählte Föten getötet. Und er war ein Trinker. Gab er sich zunächst nur als Quartalssäufer aus, um nicht in Akademie und Krankenhaus erscheinen zu müssen, wenn Unterschriften gegen ideologische Abweichler zu leisten waren, so wurde er auf diese Weise zu einem echten Säufer. Auch nach dem zweiten Lesen dieser rätselhaften Seiten weiß ich nicht, warum sie die Ulitzkaja geschrieben hat. Sind sie - angesiedelt in der Mitte des Buches - eventuell sogar das Herzstück? Teufel auch, sie erschließen sich mir nicht. Handeln sie im Jenseits? Gibt es - zumindest bei Ljudmila Ulitzkaja - eine Zwischenwelt?

Sich wie im siebenten Himmel fühlen, das heißt doch, ungeheuer glücklich sein. Aber das sind die handelnden Personen oft nicht. Während einer Buchlesung gibt die Autorin diese Begründung für den Titel der deutschen Übersetzung: Einem Physiker seien sechs Stufen der Freiheit bekannt. Niemand wisse, was danach komme, aber jeder strebe danach.

Neun Jahre lang hat Ljudmila Ulitzkaja (Betonung: Ulítzkaja) an diesem Buch gearbeitet, noch nie zuvor, bekennt sie, habe ein Buch ihr solche Schwierigkeiten bereitet. Kein Wunder, denn auf rund fünfhundert Seiten behandelt die teils rasante teils verhaltene Erzählerin nicht nur ganz große Themen, sondern bewegt sich dazu zwischen wahrgenommener Realität und halluzinatorischer Innenwelt.

Übrigens, liebe Ljudmila Ulitzkaja: Clara Zetkin (S. 36) war nicht kinderlos. Sie hatte zwei Söhne: Maxim und Kostja.

Gisela Reller / www.reller-rezensionen.de


* Nach einer Änderung des Familienrechts waren Abtreibungen in der Sowjetunion von 1936 bis nach dem Tode Stalins verboten. Alte Frauen, die als "Engelmacherinnen" einsprangen, mussten mit fünf Jahren Straflager rechnen, Ärzte mit der doppelten Frist.