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Der dunkelgraue Paradiesgarten
19. Oktober 2012, 17:28
Ljudmila Ulitzkajas Roman "Das grüne Zelt" über Widerstandskultur in der verflossenen Sowjetunion
Heidenreichstein - Epochemachende Romane schätzt man wegen ihres erzählerischen Atems. Man mag sich an die törichte Ehebrecherin Emma Bovary erinnern, auch Mitleid mit ihr empfinden. Die eigentliche Faszination von Gustave Flauberts Roman steckt in den Einzelheiten: in der Schilderung einer Landwirtschaftsmesse; in den Sonntagsreden eines Provinzapothekers, dessen bornierte Weisheit vor Emmas traurigem Schicksal versagt.
Ljudmila Ulitzkajas Roman Das grüne Zelt, in der wunderbar biegsamen Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt soeben auf Deutsch erschienen, versöhnt beide Aspekte miteinander. Er verhandelt die Geschichte der Sowjetunion seit 1953 und springt im Epilog sogar noch in die postkommunistische Ära hinüber. Das rund 600 Seiten dicke Buch malt das Mosaik einer Gesellschaft, deren "Intelligenzija" weder fähig noch willens ist, sich den Erfordernissen der realsozialistischen Gesellschaft anzupassen. Drei Freunde - Ilja, Sanja und Micha - drücken miteinander die Schulbank. Ihre Lebenssphäre bilden die Straßen und Prospekte Moskaus. Ein kriegsversehrter Literaturlehrer weckt in ihnen den Hunger nach Poesie. Eine Gruppe junger Vielleser torkelt wie benommen durch die Stadt und krallt sich an die Stätten und Plätze, an denen Puschkin, Pasternak oder die Zwetajewa existierten. Zur Zeit der Erzählung stirbt Stalin.
Ganz allmählich lüftet Ulitzkaja den Vorhang: Die Schöngeister der ersten Tauwetterperiode leben auf wenigen Quadratmetern. Die Schlafplätze trennt man, indem man Leintücher quer durchs Zimmer spannt. Jede Großmutter, auch beinah jedes Mitglied des umfangreichen Unterdrückungsapparats hat unvorstellbare Verluste erlitten: unwiederbringliche Jahre im Lager. Zu beklagen gibt es die Vernichtung vieler Angehöriger, die Verschickung ganzer Volksstämme und Ethnien in die Wüste oder in die Taiga.
Aber niemand klagt in Das grüne Zelt. Die Kinder der Gedemütigten richten sich ein Leben im Abseits ein. In der Sowjetunion herrscht die Diktatur der Angepassten: Große und kleine Zyniker lavieren sich durch das Dickicht der Paragrafen. Unter deren fragwürdigem Schutz verschaffen sich KGB-Beamte Zutritt zu den Wohnungen, um hastig hektografierte Zettel und Manuskripte einzusammeln.
Die nachmals berühmten Dissidenten, so zeigt es Ljudmila Ulitzkaja, sind Entwurzelte, die um ihre ethische Haltung ringen. Der Widerstand gegen den Kommunismus erwächst aus einem Vakuum: Wer sich mit ein paar Flaschen Importbranntwein aus dem Sonderdepot der Partei nicht zufrieden geben will, mit einem kleinen Einkommen, dem Anspruch auf zwei Zimmer für Frau und Kind, der wird hellhörig. Beginnt zu riskieren. Setzt seine Freiheit und die seiner Lebensmenschen mit aufs Spiel.
Niemand kommt ungeschoren davon: der pfiffige Abenteurer Ilja nicht, der als Informant für die Staatsmacht endet. Der sensible Sanja nicht, der wie ein Somnambuler in die Musik flüchtet. Schon gar nicht der mit Empathie begabte Jude Micha, der schauderhafte Verse schreibt, aber im - natürlich unbelohnten - Einsatz für die Schwächsten der Gesellschaft zeitweise sein Glück findet.
Die eigentliche Bedeutung von Ulitzkajas Riesenwerk liegt in der Vielfalt der genau beobachteten Details. Die Kapitel kreuzen einander; manche Abschnitte erhellen erst im Nachhinein das zuvor rätselhaft gebliebene Geschehen. Bedeutend ist Das grüne Zelt (eine Chiffre für das Paradies) durch seine Wahrnehmungsgabe: das ganze Glück einer etwas einfältigen Sowjetbürgerin, der es gelingt, im Moskauer Kaufhaus GUM ein Paar Wildlederstiefel zu erwerben. Die zahnlosen Tiraden der Bäuerinnen, die, mittellos und von ein paar Erdäpfeln lebend, von der Sowjetmacht auf der Ofenbank sitzen gelassen werden. Das Tun "anständiger" Wissenschafter, die bemerken müssen, dass man sich in einem Unrechtssystem die Hände moralisch nicht desinfizieren kann.
Ulitzkaja, die gelernte Biologin und Genetikerin, war selbst Samisdat-Aktivistin ("Samisdat" heißt wörtlich: selbstverlegtes Schriftwerk). Ihr einigermaßen epochaler Roman, im Original 2010 erschienen, ringt einer grau in grau gehaltenen Epoche unerhörte Farbwirkungen ab. Wer genau liest, wird die bedenklichen Entwicklungsschritte von Putin-Russland in dem Buch ohne Spurenverwischung angelegt sehen. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 20./21.10.2012)
Ljudmila Ulitzkaja: "Das grüne Zelt". Hanser, München 2012
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