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«Das grüne Zelt»
Heldentum und Kompromiss
Ulrich M. Schmid
Mit ihrem neuesten Buch, «Das grüne Zelt», macht Ljudmila Ulitzkaja endgültig klar, dass sie in der ersten Liga der russischen Gegenwartsliteratur spielt. 1996 hatte sie mit ihrem Familienepos «Medea und ihre Kinder» den internationalen Durchbruch geschafft, 2006 kickte sie sich mit der anspruchsvollen Romancollage «Daniel Stein» in die Führungsriege der russischen Autoren. Ulitzkaja (geb. 1943) führte in der Sowjetunion das Leben einer Dissidentin, die sich nicht vereinnahmen liess – sie legte sich aber auch nicht offen mit dem System an. 1970 verlor die studierte Biologin wegen Verbreitung von Samisdat-Schriften ihre Stelle am Genetik-Institut der Akademie. Später schlug sie sich als Dramaturgin, Drehbuchautorin und Literaturkritikerin durch. Der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes war die Voraussetzung ihres späten Ruhms.
Das ganze Spektrum der Gefühle
«Das grüne Zelt» ist ein mosaikartiger Roman, der das wechselhafte Schicksal zweier Dreierfreundschaften in der späten Sowjetzeit schildert. Die Autorin beginnt mit einer Reihe von Momentaufnahmen, in denen sie die Reaktionen auf Stalins Tod vorführt – das Spektrum reicht von gelassener Gleichgültigkeit über scharfe Häme bis zu verzweifelter Trauer. Mit dieser Ouvertüre signalisiert sie den grundlegenden Kunstgriff, der den ganzen Roman dominiert: Ulitzkaja beschreibt einzelne Episoden aus dem Leben ihrer Protagonisten, ohne in eine streng chronologische Darstellung zu verfallen. Ein und dasselbe Ereignis wird immer wieder aus verschiedenen Perspektiven dargestellt. Das zunächst völlig absurd erscheinende Verhalten einer Person wird im zweiten Erzähldurchgang plötzlich plausibel – und ein Konflikt erscheint nicht als Interessengegensatz, sondern als Ausdruck divergierender Lebensdeutungen.
Ulitzkaja legt ihren Roman als Längsschnittstudie an. Ihr Untersuchungszeitraum reicht von den fünfziger Jahren bis in die Gegenwart. Drei Buben und drei Mädchen stehen im Fokus der Beobachtung: Ilja, Sanja und Micha kämpfen gegen die Strukturen des Sowjetstaates, verstricken sich in Kompromisse oder treten die Flucht an. Olga, Tamara und Galja engagieren sich für Literatur, Biologie und Sport – sie schwanken zwischen Konformismus und Subversion, Judentum und Orthodoxie, Gesundheit und Krankheit. Auf kunstvolle Weise verschränkt Ulitzkaja die anspruchsvollen Lebensschicksale ihrer Helden: Bereits in der Schule müssen sich die Buben gegen eine ideologisierte Erziehung und rohe Gewalt auf der Strasse wehren.
Gegen beides finden sie ein Antidot: Ein privater Bildungszirkel neutralisiert die marxistisch-leninistische Indoktrination; die blindwütigen Angriffe stiernackiger Mitschüler werden durch die Solidarität der Freunde abgewehrt. Ilja entdeckt die Fotografie als Beschäftigungsfeld und macht aus der Verbreitung von verbotener Samisdat-Literatur einen schwungvollen Handel. Aus erster Ehe hat er einen behinderten Sohn, in zweiter Ehe ist er mit Olga, der Tochter eines strammen Kommunistenehepaars, verheiratet. Olga ist ihrem Mann in einem «amour fou» ergeben – sie hat ebenfalls einen Sohn aus erster Ehe, für den aber Ilja die Vaterrolle einnimmt. Ilja wird von einem Geheimdienstoberst erpresst und muss für ihn als Spitzel arbeiten – bald emigriert er nach Amerika, lässt jedoch sowohl Olga als auch seinen geliebten Stiefsohn in Moskau zurück. Mit dieser komplizierten Konstellation entsteht hier eine typische Ulitzkaja-Patchworkfamilie: Viel wichtiger als biologische Stammbäume sind Wahlverwandtschaften – die Liebe zwischen Kindern und Eltern ist genauso kulturell und sozial bedingt wie die erotische Attraktion zwischen Mann und Frau.
Sanja träumt von einer Pianistenkarriere – als er jedoch seinen Freund vor einer Messerattacke rettet, wird er an der Hand verletzt und kann seine Finger nicht mehr richtig bewegen. Deshalb studiert er Musikwissenschaften und begeistert sich für die Kompositionen von Karlheinz Stockhausen. Eine platonische Liebe zu einer jungen Pianistin findet ein jähes Ende, als seine Angebetete einen pausbäckigen Violinisten heiratet.
Symbolische Autobiografie
Micha scheitert an seiner eigenen Aufrichtigkeit. Er verliert seine Traumstelle als Lehrer an einer Taubstummenschule, weil er verbotene Bücher liest. Ilja verschafft ihm darauf einen illegalen Zusatzverdienst in seinem Samisdat-Geschäft. Micha engagiert sich zusätzlich für die Rechte der vertriebenen Krimtataren und wird verhaftet. Während seiner Haft kümmert sich Sanja um Michas Frau und seine Tochter – Micha bringt sich um, als man ihn zu einer Denunziation zwingen will. Ljudmila Ulitzkaja hat mit dem «grünen Zelt» eine symbolische Autobiografie geschrieben. Das überbordende Material ihrer eigenen Lebenserfahrung reicht für die Ausstattung einer ganzen Schauspielertruppe, die sie in ihrem Roman aufmarschieren lässt. Die Autorin verteilt einzelne autobiografische Aspekte auf verschiedene Handlungsfiguren: Das Interesse für Biologie, die Anfechtungen des KGB, das Heldentum einer privaten Existenz in einer sozialistischen Gesellschaft, das rettende Asyl von Kunst und Kultur – alle diese Elemente sind in den Roman verwoben, bilden aber zusammen den Text von Ulitzkajas eigenem Leben.
Ulitzkaja will ihren Roman als Mahnmal gegen die zunehmende Sowjetnostalgie und die Stalinisierung der russischen Gesellschaft verstanden wissen. Diese Selbstinterpretation greift wohl zu kurz. Viel wichtiger als die Darstellung einer finsteren Zeit ist das literarische Ausloten der menschlichen Handlungsmöglichkeiten im Spannungsfeld zwischen Geschichte, Religion, Kunst, Gesellschaft und Familie. Die Titelmetapher ist eine Glücksvision der an Krebs sterbenden Olga, die alle Menschen aus ihrem Leben in ein grosses grünes Zelt hineingehen sieht. Ulitzkaja bricht auch über den Schergen des Systems nicht den Stab, sondern gönnt ihnen ein menschliches Gesicht. Mit dem «grünen Zelt» ist ihr eine einfühlsame Darstellung der Sowjetgesellschaft gelungen, die sich nicht in einer platten Anklage erschöpft, sondern moralische Dilemmata nachzeichnet, die über die Würde des Tragischen verfügen.
Ljudmila Ulitzkaja: Das grüne Zelt. Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Carl Hanser, München 2012. 594 S., Fr. 34.90.