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Humanismus für alle
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Ljudmila Ulitzkaja und ihr neuer Roman "Das grüne Zelt"
Von Tobias Wenzel
Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja hat sich der russischen Geschichte verschrieben, wobei das individuelle Einzelschicksal immmer im Vordergrund steht. Das gilt auch für ihren neuen Roman "Das grüne Zelt", der auf einfühlsame Weise die Geschichter dreier Dissidenten erzählt.
"Warum fahren die denn auf der anderen Seite vorbei?!"
Ljudmila Ulitzkaja hat keinerlei Verständnis für diesen Egoismus auf der Straße und in der russischen Gesellschaft überhaupt. Selbstlose Menschen faszinieren die 69jährige Schriftstellerin dagegen. Und solch einen will sie ihrem deutschen Gast vorstellen.
Der Wwedenskoje-Friedhof ist eine faszinierend grüne stille Insel im lauten Moskau. Ljudmila Ulitzkaja besucht ihn regelmäßig, um Blumen am Grab von Friedrich Josef Haass abzulegen. Und genau dort steht sie nun:
"Dr. Haass ist ein moderner Heiliger. Er war wunderbar."
Ljudmila Ulitzkaja hat den deutsch-russischen Gefängnisarzt aus dem 19. Jahrhundert zur Hauptfigur eines Theaterstücks gemacht. 25 Jahre lang betreute Haass Häftlinge in Russland seelsorgerisch und medizinisch. Am Gitter, das den von bunten Blumen übersäten Grabstein umgibt, sind Eisenfesseln angebracht.
"Die Eisenfesseln für Hände und Füße waren sehr schwer. Haass kämpfte erfolgreich dafür, dass die Fesseln durch leichtere ersetzt wurden."
Der Humanist Haass starb 1853 und damit exakt 100 Jahre vor dem Diktator Stalin. Mit Stalins Tod lässt Ljudmila Ulitzkaja ihren neuen, 40 Jahre russische Geschichte umspannenden Roman "Das grüne Zelt" beginnen:
"Ich erinnere mich noch gut an Stalins Tod. Ich war damals zehn. Sie führten uns damals zu Stalins Grabmal. Und ich erinnere mich noch gut, wie alle den Hintern herausstreckten. Ich stand zwischen den anderen und fühlte mich unglaublich einsam. Ich wollte mit ihnen den Augenblick teilen, aber ich fühlte mich fehl am Platz. Meine beiden Großväter saßen unter Stalin in Straflagern ein. In meiner Familie hatte also niemand warme Gefühle für Stalin übrig."
Ljudmila Ulitzkaja stammt aus einer jüdischen Familie, die 1945 - Ljudmila war zwei - aus dem Ural nach Moskau zog. Obwohl sie keine gläubige Jüdin ist, litt auch Ljudmila Ulitzkaja unter antisemitischen Anfeindungen. Schon Stalin, der so viele Kommunisten auf dem Gewissen hatte, verfolgte Juden. Und doch trauern heute zahlreiche Russen dem Diktator nach:
"In diesem Land gibt es so viele Dinge, die man nicht erklären kann. Und diese Tatsache gehört dazu. Auch sie kann ich nicht erklären."
Wenn nicht erklären, so kann Ljudmila Ulitzkaja doch aufklären. Niemand ging unbeschadet aus dem Stalinismus und dem Kommunismus hervor - das ist die politische Aussage in ihrem neuen Roman "Das güne Zelt", die Geschichte dreier Dissidenten, die schon in der Schule zu Freunden werden, als sie eine kleine Katze vor grausamen Kinderspielen retten:
Sanja holte das halberstickte Kätzchen aus dem Ranzen und gab es Ilja. Der reichte es weiter an Micha. Sanja lächelte Ilja an, Ilja Micha, Micha Sanja. "Ich hab ein Gedicht gemacht. Über das Kätzchen", sagte Micha schüchtern. "Hier:
Ein junger Kater, wunderschön,
Der sollte beinah von uns gehn.
Ilja hat ihn vorm Tod bewahrt,
Hat ihm den schlimmen Tod erspart."
""Na ja, nicht schlecht. Natürlich nicht gerade Puschkin", kommentierte Ilja.
Der Jude Micha dichtet, seine zwei Freunde werden Fotograf bzw. Musiker. Der eigentlich kritische Fotograf arbeitet schließlich für den KGB. Und Micha wird denunziert, weil er jenen Menschen nahe steht, die illegal systemkritische Literatur vervielfältigen. Er findet jahrelang keinen Beruf. Ebensowenig wie einst Ljudmila Ulitzkaja, die nicht mehr als Biologin arbeiten durfte, weil auch sie heimlich Literatur verbreitet hatte. Ganz uneigennützig. Ganz im Sinne des Altruisten Friedrich Josef Haass.
Als Ljudmila Ulitzkaja am Grab des von ihr so verehrten deutsch-russischen Arztes fotografiert werden möchte, steht plötzlich ein beleibter Friedhofswärter vor ihr. Fotos nur mit schriftlicher Genehmigung, sagt er. Obwohl er zwei Köpfe größer ist als die Autorin, schickt ihn Ljudmila Ulitzkaja einfach weg. Unzählige Male hat sie mutig ihre Stimme gegen Wladimir Putin erhoben. Was hat sie da schon von einem korrupten Friedhofswärter zu befürchten?
"Ich hatte nicht mal eine einzige Sekunde Angst vor ihm. Ich habe ihn recht freundlich in die Schranken gewiesen. Aber es ist eine Tatsache, dass er mit Geld bestochen werden wollte."
Und das am Grab des Altruisten Haass. Russland braucht jemanden wie ihn mehr denn je. Und nicht nur Russland:
"Jeder braucht einen solchen Humanisten."