http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2012%2F09%2F08%2Fa0044&cHash=3600152884d1dfb2ffa33091ed59ee6d

Verwirrende Spaziergänge durch Moskau

DISSIDENTEN Die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja schreibt einen Roman über russische Untergrundliteratur: "Das grüne Zelt"

Führungen durch "Charlottengrad" kann man in Berlin unternehmen, um den Spuren russischer Literaten zu folgen. Geboten bekommt man eine bunte Mischung aus Jessenin, Majakowski und Nabokow. Das ist anregend, muss aber literarisch wie biografisch Stückwerk bleiben: Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller jener Zeit, die es nicht nach Berlin verschlagen hat, fehlen. In Ljudmila Ulitzkajas neuem Roman "Das grüne Zelt" haben die drei Jungen Sanja, Micha und Ilja einen Russischlehrer, der mit ihnen literarische Spaziergänge durch Moskau unternimmt.

Die Topografie gibt vor, wen sie kennenlernen; und wie in einem Steinbruch klauben die Schüler sich aus den Straßen Literatur zusammen, klassische und avantgardistische, erlaubte und unterdrückte. Trotz unterschiedlicher Herkunft schlagen die drei einen akademischen oder künstlerischen Weg ein. Sanja wird Musikwissenschaftler. Micha verkrachter Dichter und Lehrer an einer Schule für Taubstumme. Ilja Fotograf und Herausgeber von Samisdat-Literatur, von Untergrundliteratur also. Hier drängt sich jedoch ein erstes Aber auf: Ihre Liebe zur Literatur wird von Ljudmila Ulitzkaja eher axiomatisch gesetzt, nicht durch Schlüsselerlebnisse nahegebracht.

Augenfälliger ist dieses Manko noch bei den weiblichen Pendants, bei Galja, Olga und Tamara. Olga stammt aus einem linientreuen Haus, ist selbst Vorzeigekomsomolzin - bis sie wegen eines Protestbriefs zur Entlassung Sinjawskis erst aus dem Komsomol, dann von der Uni fliegt. Doch was lässt sie mit dem System brechen? Eine psychologische Auslotung der Figur, die Brüche und Kontinuitäten in der Biografie erhellt, bleibt aus.

Leider kann und muss das Aber auch auf die Gesamtkonzeption des Romans übertragen werden. Ja, es ist sogar fraglich, ob man ihn überhaupt als Roman lesen sollte - oder nicht als kulturgeschichtliches Sachbuch, das rein zufällig fiktiv geraten ist. Dann hätte man vermutlich mehr davon. Dann könnte man sich ebenfalls aus dem Steinbruch bedienen und allerlei interessante Funde machen, denn das Themenspektrum ist gewaltig: von Musik, Theater (die Hamlet-Aufführung mit Wyssozki) und Literatur samt Textschmuggel ins Ausland und Entstehung von Samisdat-Ausgaben über Politik, Wirtschaft, Wohnverhältnisse und Feminismus (bzw. sein Fehlen) bis hin zur Verfolgung von Minderheiten wie den Krimtataren, Antisemitismus (auch unter Dissidenten). Bis hin zu Solidarität und Denunziation.

Lässt man sich auf einen solchen Streifzug ein, wird man "Das grüne Zelt" mit Gewinn lesen. Dann braucht man sich nicht über den auktorialen Erzähler zu ärgern, der mit seinen Vorgriffen auch das letzte bisschen an literarischer Spannung kaputtmacht. Oder über die aneinandergereihten Episoden, die sich teilweise ebenso verwirrend ausnehmen wie die nicht immer klare Trennung zwischen Neben- und Hauptfiguren.

Ist man jedoch auf der Suche nach einem literarisch gelungenen Porträt der Sowjetunion, wie es der Klappentext ankündigt, sollte man eher zu "Moskau, Bel Étage" von Ulitzkajas Cousin Grigori Rjaschski greifen. Und allen, die die überzeugende Erzählerin Ulitzkaja entdecken wollen, seien ihre Frühwerke empfohlen, "Medea und ihre Kinder", "Ein fröhliches Begräbnis" oder "Sonetschka" - sie halten, was "Das grüne Zelt" nur verspricht.

CHRISTIANE PÖHLMANN

Ljudmila Ulitzkaja: "Das grüne Zelt". Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser, München 2012, 592 S., 24,90 Euro

Fraglich, ob man das nicht lieber als kulturgeschichtliches Sachbuch lesen sollte, das fiktiv geraten ist

 

Verwirrende Spaziergänge durch Moskau (Imago/Green Tent) - taz.de , 08/09/2012 (German)

 



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