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07.03.2009
Ljudmila Ulitzkaja: Daniel Stein ****
Von Ljudmila Ulitzkaja habe ich schon einige Romane gelesen, die mir fast alle auch gut gefallen haben. Nach einer längeren Pause habe ich mich entschieden, ihren gerade erschienenen neuen Roman »Daniel Stein« zu lesen.
Was für ein Roman! Er ist anders als ihre bisherigen Romane: herausfordernd, erschütternd, bewegend, packend, prall wie das Leben, verwirrend, nachdenklich machend - all dies und im Grunde noch viel mehr fällt mir dazu ein.
Erzählt wird die Lebensgeschichte von Daniel (geboren als Oswald) Rufeisen, den es tatsächlich gegeben hat. Er wurde 1922 in einem polnischen Dorf geboren in eine religiöse jüdische Familie geboren in der deutsch gesprochen wurde. Als 1939 der 2. Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen begann, floh er auf Anraten seiner Eltern nach Osten (Weißrussland), wo er sich später als nicht-jüdischer Pole deutscher Abstammung ausgab, was ihm das Leben rettete. Zugleich ermöglichte es ihm anderen das Leben zu retten, u.a. dreihundert Bewohnern des Emsker Ghettos.
Daniel Stein selbst überlebte wie durch ein Wunder den Krieg. Er konvertierte zum katholischen Glauben, wurde Karmeliter (da erhielt er den Namen Daniel) und ging 1959 nach Israel, wo er eine katholische Gemeinde bildete, die er theologisch (und praktisch) an der judenchristlichen Urgemeinde, der Jakobus, der Bruder Jesu, vorgestanden hat, ausrichtete. Während seines ganzen priesterlichen Daseins, war ihm die Einheit der Christen und Juden ein vorrangiges Anliegen, was ihn (leider) natürlich auch in Konflikt mit seinen eigenen Glaubensgenossen und Kirchenvorgesetzten brachte. Rückendeckung erhielt er hingegen später von Papst Johannes Paul II., den er aus seiner Jugendzeit persönlich aus Krakau kannte und den er später einmal privat traf. Daniel Stein (alias Daniel Rufeisen) war auf jeden Fall ein Idealist, der auf seine Weise einen Aspekt des Glaubens und der Gemeinschaft vorlebte, der weithin verlorengegangen ist. Wie es aber bei Idealen und Idealisten meistens ist, so hielt dieses für kurze Zeit praktisch gelebte Ideal, nur solange er am Leben war. Nach seinem Tod überlebt die Gemeinde nicht, wohl aber einzelne Menschen, die er mit seinem Vorbild motiviert und inspiriert hat und die die Idee in gewisser Weise weitertragen.
Das ist das authentische Fundament des Romans von Ljudmila Ulitzkaja. Darauf baut sie nun quasi das Romanhaus in dessen Zimmern viele viele authentische aber auch fiktive Figuren leben und ein und aus gehen. Es sind Deutsche, Polen, Weißrussen, Russen, Amerikaner und Israelis, sie sind Atheisten, Juden, Christen, konvertierte Christen, konvertierte Juden, vom Glauben abgefallen, Gott-Suchende, Gott-Verfluchende, religiöse Extremisten und schlichte Gläubige mit weiten Herzen. Manche kennen sich untereinander, finden sich und stellen gemeinsame Wurzeln fest, andere hören nur voneinander aber allen gemeinsam ist eine irgendwie geartete Verbindung zur Figur Daniel Stein, dem Zentrum des Romans, um den sich alles dreht und wendet.
Als wäre das alles noch nicht genug - und es ist teilweise gar nicht einfach den Überblick zu behalten - reichert Ljudmila Ulitzkaja die Geschichte auch noch mit der Geschichte fast eines ganzen Jahrhunderts an - so schreibt sie viel darüber, wie es den Juden in Polen und Weißrussland während des Zweiten Weltkrieges erging, über ihre Fluchten, die Traumata der Überlebenden und ihrer Kinder, wie sie sich in alle Welt zerstreuten bis hin auch nach Israel und über das mühsame Rekonstruieren von Identitäten und Wurzeln sowie der Zersplitterung innerhalb des Christentums und des Judentums sowie zwischen den beiden Religionen. Ein paar Exkursionen in andere Themen wie z.B. Homosexualität oder das Bilderverbot gibt es noch obendrauf. Der Roman bietet auf jeden Fall eine Menge Stoff zum Nachdenken und Reflektieren, ist zugleich auch ein Zeugnis von der Bosheit der Menschen wie auch von der Weitherzigkeit, Barmherzigkeit und Liebe zu der Menschen ebenfalls fähig sind.
Sehr interessant ist, auf welche Weise Ljudmila Ulitzkaja, diesen Roman erzählt. Insgesamt besteht der Roman aus einem Vorwort von Ljudmila Ulitzkaja, fünf Hauptteilen, die von kurzen Briefen Ulitzkajas unterbrochen sind und einem abschließenden Brief sowie den Danksagungen und einem Inhaltsverzeichnis. Die fünf Hauptteile setzen sich aus vielen einzelnen Stücken zusammen, wie eine Collage. Es sind authentische und auch wieder fiktive Gespräche, Aufzeichnungen, Briefe, Manuskripte, Tagebuchaufzeichnungen, Notizen, Telegramme, Biografien aus denen sie schöpft und die alle zusammen die Geschichte von Daniel Stein und den Menschen in seiner Umgebung erzählen. Das macht es einerseits manchmal etwas verwirrend, andererseits aber ist es ein großartige Art und Weise, weil es ihr so gelingt eine Vielzahl an Stimmen und Fakten anzubringen, ohne dass es langweilig würde und zugleich wird damit auch wieder das Anliegen von Daniel Stein aufgegriffen und verwirklicht, nämlich das der Einheit in der Vielfalt.