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Für ein neues Israel
«Daniel Stein» – Ljudmila Ulitzkaja legt einen Thesenroman zum jüdisch-christlichen Verhältnis vor
Felix Philipp Ingold
Auf mehrere erfolgreiche Prosabände – Romane, Erzählungen, Kindergeschichten – lässt die Moskauer Autorin Ljudmila Ulitzkaja nunmehr, dezidiert abweichend von ihrer bisher bevorzugten Thematik weiblicher Liebeswirren und Lebenslügen, eine belletristische Biografie folgen, die für einmal weder einen Frauenverehrer noch einen Frauenverderber zum Helden hat, vielmehr einen unscheinbaren, gottgläubigen, dabei tatkräftigen Gerechten, dem das liebende Streben nach Allmenschlichkeit weit wichtiger ist als die Attraktion des Geschlechts.
Auf vielen hundert Seiten wird hier eine moderne, ganz und gar säkulare Heiligenvita ausgefaltet, die sich, vielfach verzweigt und gebrochen, vom Beginn des Zweiten Weltkriegs in Polen und Weissrussland bis zur palästinensischen Intifada und zum antiislamischen Amoklauf des Baruch Goldstein in Jerusalem erstreckt. Erzählt wird die dokumentarisch belegbare, jedoch fiktional aufgearbeitete Lebensgeschichte eines deutsch-polnischen Juden namens Oswald Rufeisen, der im Kriegsverlauf als Dolmetscher für die Gestapo wie auch als Informant für den sowjetischen Geheimdienst NKWD tätig war und der kraft dieser in mancherlei Hinsicht grenzüberschreitenden Tätigkeit viele Menschen vor dem sicheren Tod zu retten vermochte.
Ein Mann der Versöhnung
Dem jungen polnischen Juden gelingt es nicht nur, mehrere hundert Ghettobewohner vor einem vernichtenden Pogrom aus der Stadt Emsk zu evakuieren und sie dem Schutz antifaschistischer Partisanen zu überantworten, er hat auch in Einzelfällen schicksalshafte Entscheidungen zu treffen, indem er als selbstbestimmter Doppelagent zwischen den Fronten verhandelt. Bisweilen muss er bei derartigen Freund-Feind-Kontakten einzelne Menschenleben aufs Spiel setzen. Daniel Stein, der im Roman für Rufeisen steht, verdankt sein eigenes Überleben nebst diversen Zufällen auch dem helfenden Eingreifen eines Wehrmachtoffiziers, mithin eines Feindes, der jedoch ihm gegenüber, allen Vorurteilen und Vorschriften zum Trotz, Menschlichkeit vor Pflichterfüllung walten lässt.
Auch für ihn selbst wird dadurch die Schuldfrage akut, er sinniert über Verantwortung und Gerechtigkeit, versagt sich dann aber, als Mann der Tat, den untragbaren «Luxus», Gefühle zu haben. So übersteht Stein, in ständigem riskantem Hin und Her die Seiten wechselnd, den Krieg, und aus der Tatsache, dem Tod oft genug entgangen zu sein, leitet er den moralischen Imperativ für seine zweite Lebenshälfte ab: Das Leben sei ihm so oft geschenkt worden, dass es nicht mehr wirklich ihm gehöre – deshalb wolle er es hingeben für andere.
Daniel Stein lässt sich römisch-katholisch taufen, ohne sich allerdings gänzlich vom Judentum abzuwenden und ohne sich der kirchlichen Dogmatik des Christentums in allen Punkten zu unterwerfen. Um 1959 übersiedelt er nach Israel, tritt dem Barfüsserorden der Karmeliten bei, wirkt überall im Land als ambulanter Seelsorger, Prediger, Lehrer, gewinnt viele Sympathien bei den einfachen Menschen, Christen wie Juden, macht sich aber bei den religiösen Behörden als unbotmässiger Gottesmann verdächtig, wird gerügt, mit Verboten belegt, sogar für «ein bisschen verrückt» gehalten.
Steins Ideal, aber auch sein konkretes Ziel ist die Wiederbelebung der judenchristlichen Jakobus-Gemeinde in Jerusalem, einer undogmatischen freien Kirche, die der Nächstenliebe, der gegenseitigen Hilfe, überhaupt dem tätigen Christsein Vorrang gibt vor kirchlichen Gesetzen und theologischen Spekulationen. Doch dieses Bestreben (wozu auch die Öffnung gegenüber dem Islam gehört) macht ihn weithin verdächtig, bei den Oberen seiner Kirche ebenso wie bei orthodoxen oder atheistischen Juden. «Ich habe gegen die Gestapo und den NKWD gewonnen», so lautet sein desolates Fazit: «Gegen die Bürokraten in Israel habe ich verloren.»
Zuspruch findet Daniel Stein allerdings beim damaligen Papst, Johannes Paul II., mit dem er, noch in Polen, befreundet war und den er im Vatikan besucht, um ihm, mit Berufung auf die «eine, allumfassende apostolische Kirche» des Paulus, sein Konzept von einem «erweiterten Israel» zu erläutern, das «alle christlichen Völker» unter Einschluss der Juden umgreifen sollte. In der Folge reist der Papst bekanntlich nach Israel, betet an der Klagemauer in Jerusalem, besucht als erster katholischer Pontifex eine Moschee, bittet im Namen der römischen Kirche um Vergebung für die im 15. Jahrhundert erfolgte Zerstörung Konstantinopels – all dies im Sinn und Verständnis des «jüdischen Christen» Daniel Stein. Doch selbst in Israel, wo ultraorthodoxe Juden ihren wachsenden Einfluss vielfach mit Gewalt geltend machen, bleibt diese «Erweiterung» eine Illusion, und nach Steins Tod, 1999, löst sich dessen paulinische Gemeinde rasch auf, mit ihr auch die hochgemute Utopie einer jüdisch-christlich-muslimischen Ökumene im Staat Israel.
«Daniel Stein, Übersetzer» – so lautet der russische Originaltitel des Romans, der seinen Protagonisten, treffend und ambivalent zugleich, als Über setzer und als Über setzer charakterisiert, als einen Mann der grenzüberschreitenden Verständigung und Versöhnung, der «Erneuerung» und «Erweiterung» des religiösen Bewusstseins über konfessionelle Schranken hinaus. Ljudmila Ulitzkaja stellt sich die schwierige Aufgabe, eine makellose Lichtgestalt als Vorbild, als Leitfigur herauszustellen.
Um diesen rundum positiven Helden glaubwürdig erscheinen zu lassen, vergegenwärtigt sie dessen heiligenmässige Vita durch eine Vielzahl von Stimmen und Dokumenten, welche die Objektivität der Darstellung bezeugen sollen. Dutzende von Zeitgenossen, die mit Daniel Stein direkt oder indirekt zu tun hatten, lässt die Autorin – hier in der Rolle einer Herausgeberin – zu Wort kommen, vorzugsweise in Form von Briefen, Tagebuch- und Tonbandaufzeichnungen, mit denen sie Dokumente aller Art (Zeitungsartikel, Vortragsskripten, Verhörprotokolle) geschickt zusammenschneidet.
Gefragte Werte
Da jedoch all die vielen Zeugen, unabhängig davon, welche Geschichten sie zum Gesamtbild des Helden beitragen, mit ein und derselben Stimme sprechen, nämlich derjenigen der Autorin, und da diese Stimme durchweg zu belletristischer Klischeehaftigkeit, wenn nicht Geschwätzigkeit tendiert, vermag sie dem Anspruch der Authentizität nicht wirklich gerecht zu werden. Dass aber ein grosser Roman wie «Daniel Stein», der ohne Sex und Crime auskommt, dafür aber nachdrücklich für die Erneuerung moralischer und religiöser Werte wirbt, im postsowjetischen Russland zu einem Bestseller werden konnte, macht deutlich, dass solche Werte heute wieder gefragt sind und dass sie auch in belletristischer Aufbereitung effizient vermittelt werden können.