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Gott in der Wüste
Von Schmitter, Elke
In den Romanen dieser Schriftstellerin ist es voll. In jeder Person wartet mindestens eine Geschichte, die erzählt werden will, dann gibt es wahrscheinlich noch die ihrer Freundin, die ihrer Tante und die deren Schwagers. In jedem Zimmer der großen Moskauer Wohnungen, in denen die Figuren leben, sitzt ein Mensch mit einem Schicksal, und in der Küche warten die Verwandten vom Land, eine Zugehfrau, die Geigenlehrerin und der Hauswart, die auch alle ein solches haben.
Lässt man sie reden, entwickelt sich eins aus dem anderen. Und wer einmal angefangen hat, Ljudmila Ulitzkajas Gestalten zuzuhören, ist gefangen. Das gilt auch für diesen Roman der in Deutschland enorm beliebten russischen Autorin, für den sie ihre etablierte literarische Welt verlassen hat: "Daniel Stein" spielt nur episodenweise in Russland*.
Das Buch erzählt vom Schicksal eines jüdischen Polen, der, von Nazis wie Sowjets verfolgt, den Zweiten Weltkrieg mittels odysseischer Listen übersteht und aus Dankbarkeit für das Wunder seiner Rettung zum Katholizismus konvertiert. Diese Entscheidung führt zu kuriosen Verwicklungen, und die machen gewissermaßen die grotesk-komische zweite Etappe einer Lebensgeschichte aus, die unter düstersten Vorzeichen begonnen hat.
Denn das reale Vorbild für Stein, der deutschsprachige, in Polen geborene Jude Oswald Rufeisen, führte in den sechziger Jahren einen Prozess gegen den Staat Israel, der den gläubigen Christen und Mönch Rufeisen nicht als gebürtigen Juden einbürgern wollte - worauf er nach dem nationalen Einwanderungsgesetz doch
ein Recht zu haben meinte.
Von diesem verzwickten Fall berichtet Ulitzkaja historisch genau, aber nicht in dokumentarischer Form: Sie bleibt in "Daniel Stein", ihrem bisher anspruchsvollsten Buch, ihrer bewährten Technik treu, die Vielzahl ihrer Geschichten von beinahe ebenso vielen Stimmen erzählen zu lassen.
Der Wechsel in der literarischen Form - Tagebuch, wörtliche Rede, Zeitungsbericht, Brief und Liturgie tauchen unter anderem auf - sorgt dafür, dass sich eine allzu große Schwere im Gemüt des Lesers trotz des tragisch-bedeutsamen Stoffs nicht absetzen kann. Zu schnell verändern sich die Perspektiven, und zu komisch klingt der Bericht darüber, wie Fanatiker aller Art in der Wüste die theologischen Sandkastenspiele mit kriegerischem Furor fortsetzen.
Auch der Witz der Überlebenden kommt nicht zu kurz: Sechs Millionen ermordete Juden, meint der Bruder Daniel Steins, könnten eigentlich genügen, nicht mehr an Gott zu glauben. "Wenn mein Bruder unbedingt einen Gott brauchte, warum hat er sich dann ausgerechnet für den christlichen entschieden? Und wie viele Götter gibt es überhaupt - einen, zwei, vier? Wenn man sich schon entscheiden muss, sollte man sich als Jude für einen jüdischen Gott entscheiden."
Die heute 66-jährige Autorin, die selbst aus einer jüdischen Familie kommt, verlor als junge Frau wegen der Verbreitung von Untergrund-Literatur ihren Posten als Biologin, arbeitete zwei Jahre für ein Off-Theater und begann dort zu schreiben. Der russische Antisemitismus war bisher weder persönlich noch literarisch ihr Thema, und auch heute beklagt sie eher die Verrohung und den Verfall des Landes durch Korruption und Nationalismus als die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung.
"Daniel Stein" ist eine neue Etappe in Ulitzkajas Werk, ganz ohne jene Samowar-Gemütlichkeit, die ihre Geschichten sonst so unerbittlich verbreiten. Doch auch für dieses Buch gilt, dass ihre Anteilnahme sich gut demokratisch verteilt: Die Autorin ist immer auf Seiten aller ihrer Figuren; sie sind komisch, neurotisch, verdreht oder auch tragisch; doch grausam, schrecklich und böse sind sie nie. ELKE SCHMITTER