«Das Land ist gross, das Land ist träge»
Von Frank Nienhuysen. Aktualisiert am 17.07.2012
Ihre Bücher handeln vom Alltag in Russland, von unauffälligen Menschen. Genau solche Menschen gehen seit einem halben Jahr auf die Strasse. Aber es sind weniger geworden. Haben die Russen resigniert?
Es stimmt, im Dezember war die Motivation grösser. Damals hatte der Ämtertausch zwischen Putin und Medwedjew auf alle einen schrecklichen Eindruck gemacht. Aber ich glaube nicht, dass der Protest beendet ist. Unsere Staatsmacht gibt reichlich Anlässe, damit die Opposition nicht stirbt.
Das Demonstrationsgesetz wurde verschärft, Organisationen müssen sich als «ausländische Agenten» registrieren lassen, die Toleranz gegenüber Oppositionellen ist vorbei. Hat die Opposition verloren, wenn Putin sich durchsetzt?
Nein, nein. Man kann heute nicht über Verlierer sprechen und auch nicht über Gewinner. Vielleicht dauert der Prozess noch zehn Jahre. Die Regierung weiss sehr genau, wie stark die Opposition ist. Sonst gäbe es nicht diese repressiven Massnahmen, vor allem gegen junge Menschen.
Hat die Opposition denn eine richtige Antwort auf die Probleme?
Sie ist noch sehr jung. In Russland hat es die Bürgergesellschaft so bisher nicht gegeben; was derzeit vor sich geht, ist nicht das Ende der Geschichte, sondern ihr Anfang. Und wir hoffen, dass er friedlich und unblutig sein wird. Niemand kann das garantieren, denn die Macht reagiert gereizt. Aber auch die Opposition sammelt ihre Kräfte.
Wenn es keine sichtbaren Erfolge gibt, könnte die Gesellschaft in einen Zustand der Trägheit zurückfallen, der Russland so lange geprägt hat.
Aus der russischen Geschichte wissen die Menschen sehr genau, dass es auch noch viel schlechter werden kann. Und die Angst davor friert zu einem gewissen Grad die sozialen Proteste ein. Die Sowjetmacht gibt es nicht mehr, doch der Sowjetmensch, so wie er siebzig Jahre lang geformt war, lebt noch. Diese Angst sitzt tief im Unterbewusstsein. Es fing ja in der Schule an, wo man sich nach den ideologischen Forderungen richten musste: Du musst zu den Pionieren gehen, in den Kommunistischen Jugendverband. Diese Angst, einen Fehler zu machen und dafür mit der Karriere und dem Gehalt zu bezahlen. Das Volk musste siebzig Jahre lang mit dieser Angst leben. Erst die neue Generation ist ohne Angst aufgewachsen. Deshalb setze ich meine Hoffnung auch auf sie.
Die Führung verhält sich gerade sehr hart gegenüber den Oppositionellen. Will sie das Recht durchsetzen, oder geht es um Bestrafung?
Erstens gibt es diese Tradition des Staates, mit dem Gesetz zu strafen. Zweitens darf man nicht vergessen, dass der Chef des Staates ein Mensch ist, der in den Reihen des Geheimdienstes KGB, der heute FSB heisst, erzogen wurde. Die Wechselbeziehung zwischen Staat und Gesellschaft hat heute einen starken FSB-Akzent. Viele FSB-Leute sitzen auf den Kommandohöhen des Staates. Das prägt den Stil. Der Staat sollte nicht in den Händen derer sein, die in die KGB-Lehre gingen und sehr aggressiv sind.
Sie haben bei einem sogenannten Stadtspaziergang mitgemacht, einem leisen Protest, dem sich Tausende von Menschen anschlossen. Werden Schriftsteller wie Sie und Boris Akunin wieder zur Avantgarde der Regimekritiker?
Wir führen die Opposition nicht an. Es gibt so viele Menschen, die unzufrieden sind, da gibt es eben auch einen gewissen Prozentsatz von Schriftstellern, Künstlern, Ärzten. Viele Autoren sind sehr regimetreu.
Warum nehmen Sie am Protest teil?
Ich liebe die Politik nicht, ich finde sie nicht interessant. Aber der Staat ist nun mal verantwortlich für das kolossale soziale Unglück, das wir beobachten. Ich weiss, wie die Menschen in alten Häusern leben, die Waisen, die Rentner, welche Probleme es gibt mit dem Wohngeld. Mein Protest ist nicht ideologisch. Die Lebensumstände des Volkes sind schrecklich. Daraus entspringt mein Wunsch, hinauszugehen und zu zeigen, dass der Staat sich schlecht gegenüber dem Volk verhält.
Hat sich das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft seit den Sowjetzeiten überhaupt verändert?
Alle Parameter haben sich verändert. Ich bin in Russland in einer Zeit aufgewachsen, in der man heimlich Radio Liberty, BBC und deutschen Sendern gelauscht hat. Und das war strafbar. Heute unterscheidet sich der Informationsfluss in Russland nicht mehr von dem im Westen: Es gibt das Internet, die sozialen Netzwerke. Es macht einen kolossalen Unterschied, ob du in einem eisernen Käfig sitzt oder ob du weisst, was in der Welt vor sich geht. Das übergibt dem Menschen ein Stück Verantwortung.
Inwiefern?
In der Sowjetzeit gab es nur eine zulässige Art zu denken. Heute haben die Menschen eine Wahl. Die Staatsmacht ist nicht mehr ideologisch. Den heutigen Staat interessiert nicht die Ideologie, sondern die Macht an sich. Dieses Problem hatten die Herrscher zur Sowjetzeit nicht.
Ist Russland, das von Kaliningrad bis Wladiwostok reicht, vielleicht einfach zu gross für eine organisierte Opposition, und hat der Bauer in Komi nicht ganz andere Interessen als der IT-Fachmann in Moskau?
Ja, das Land ist gross, das Land ist träge. Seine Ausdehnung ist ein Problem, sie verlangsamt den Prozess. Und tatsächlich ist das Leben auf einem Dorf in Komi sehr viel schwerer als hier. Dort gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit, man lebt materiell deutlich schlechter. In der Provinz pflanzen die Menschen Kartoffeln und Rüben an, damit sie im Winter was zu essen haben. Das ist in der modernen Welt doch eigentlich selten.
Während also der Städter arbeitet und an die Politik denkt, kommt der Russe in der Provinz kaum dazu, weil es zuerst ums Überleben geht?
Ein grosser Teil der Provinz lebt, indem er gerade so überlebt, von Monat zu Monat, von Tag zu Tag. Die Verarmung ist aber ein gesamtrussisches Problem. Verarmt ist ein reiches Land, das sich seiner Ressourcen rühmt. Einige Menschen behandeln dieses Land wie eine Frucht, aus der der Saft herausgepresst und ausgetrunken wird. Sie wollen diesen Reichtum für sich allein, und das ist ungerecht. Soziale Gerechtigkeit gibt es nirgendwo auf der Welt, aber man sollte wenigstens danach streben. Und das ist eine wichtige Aufgabe der Regierung. Die wichtigste ist für gewöhnlich der Schutz des Landes vor Feinden, aber so weit mir bekannt ist, hat derzeit niemand vor, uns anzugreifen.
Sie sind häufig in Italien. Verändert sich dort Ihr Blick auf Russland?
Wenn ich im Ausland bin, erkenne ich, was uns im eigenen Land fehlt. In Italien bin ich meistens in Ligurien, in einer traditionell kommunistischen Region. Ich kenne die Bürgermeisterin eines kleinen Städtchens, die sich um die Dinge kümmert wie ein Hausherr um seine Wohnung. Sie sorgt sich um die Sauberkeit in der Stadt, um den Zustand der Strassen, der Geschäfte, um die dörfliche Struktur. Das gefällt mir. Wenn wir lernen, dass wir uns zu unserem Land so verhalten wie zu unserem eigenen Haus, dann kann man gut leben. (Tages-Anzeiger)
Erstellt: 17.07.2012, 15:38 Uhr