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14.09.2012
Ludmilla Ulitzkaja: Das grüne Zelt

Was ist Gerechtigkeit in einem unfreien Land?

Von Sabine Berking

 

Stalin stirbt, und sein Begräbnis gerät zu einer Orgie der Trauer. Hunderte, vielleicht Tausende reißt der Diktator auf den Straßen Moskaus mit sich in den Tod. Erstickt, zerquetscht, zu Tode getrampelt in einer gigantischen Massenhysterie. Ilja, der von seinem Vater gerade eine Kamera geschenkt bekommen hat, hält diese Tragödie in Bildern fest. Der Moskauer Schüler ist dem Tod selbst nur um ein Haar entkommen, indem er sich in letzter Sekunde in einen Gullyschacht rettete.

Atemlos liest man diese Seiten, die die Ouvertüre zu einem Romanepos über die sowjetische Dissidentenbewegung bilden. Ludmilla Ulitzkaja, die Grande Dame der russischen Literatur, hat damit ihr Opus magnum verfasst, ein Buch über die Jahre 1953 bis zum Untergang der Sowjetunion. Es ist eine nachdenkliche und letztlich bittere Bilanz ihrer Generation, der sogenannten Sechziger. Zugleich liest man es als warnenden Appell an all jene, die heute in Russland die Breschnjew-Ära als goldenes Zeitalter vermeintlicher Stabilität und imperialer Macht der Russen zurücksehnen, während Oppositionelle längst wieder für Jahre ins Straflager wandern.

Es sind, wie die Autorin in einem Interview betonte, gerade die Jüngeren, die Dreißig- bis Vierzigjährigen, welche die Generation ihrer Eltern – Kriegskinder und zugleich die sowjetische Version der Achtundsechziger – in selbstgerechtem Zynismus und zu Unrecht für den Zerfall der Sowjetunion verantwortlich machen. Nicht ganz unähnlich ihren westlichen Generationskollegen waren die russischen Seelenverwandten Rudi Dutschkes in der Sowjetunion die Ersten, die den Wunsch nach Freiheit, nach alternativen Lebensformen, nach moderner Musik und Kunst verspürten. Realisieren konnten sie dies freilich nur in homöopathischen Dosen, unter großen Gefahren und nur in der privaten Nische und im Untergrund.

Das gestohlene Leben

Für ihre Generationsbilanz und Rechtfertigung holt die 1943 geborene Autorin weit aus. Auf knapp sechshundert Seiten entsteht ein geradezu Tolstoisches Sittengemälde der sowjetischen Intelligenzija jener Jahre, das Einsichten in die Oppositionsbewegung und die Untergrundpresse des Samisdat gewährt. Historischen Figuren wie dem Friedensnobelpreisträger und Physiker Andrej Sacharow, dem Lyriker Josef Brodsky oder dem Schriftsteller Andrej Sinjawski werden im Buch Komparsenrollen zugeteilt, im Zentrum stehen nicht die Hauptakteure, sondern die Randfiguren des oppositionellen Alltags.

Der Fotograf Ilja, der Literaturwissenschaftler und Jude Mischa und der Musikwissenschaftler Sanja sind Schulfreunde und glühende Bewunderer ihres engagierten Literaturlehrers Viktor Schengeli, der ihnen mittels der russischen Literatur ein Stück intellektueller Freiheit vermittelt. Schengeli, ein Kriegsveteran, der seinen Lehrerkollegen ohnehin suspekt war, stolpert über eine Liebesgeschichte mit einer Schülerin und endet, nachdem er Großes mit dem Schreiben vorhatte, stolz, aber auch kläglich in ärmlichen Verhältnissen.

Wie ein roter Faden zieht sich das Motiv des gestohlenen Lebens durch dieses Buch. Begabungen, Gefühle, Lebensträume zerbrechen immer wieder an den engen politischen und sozialen Verhältnissen. Ilja verkauft seine Fotos aus der Dissidentenszene an eine westdeutsche Illustrierte und handelt mit verbotenen Büchern. Dabei lässt er sich auch von einem gewieften KGB-Mann anwerben, der den Preis sowjetischer Gegenwartskunst im Westen längst für den eigenen Vorteil entdeckt hat. Mischa kann seine Promotion nicht beenden, weil er Jude ist, und steigt mangels anderer Optionen in Iljas Business ein. Sanja werden schon zu Schulzeiten von üblen Mitschülern die Finger gebrochen, worauf er die geplante Karriere als Musiker aufgeben muss und Musikwissenschaften studiert. Von allen erwischt er die glücklichste Fügung. Am Ende finden wir ihn in New York wieder, wo er einer Freundin aus Moskauer Tagen wiederbegegnet.

Helden- und Schurkenschicksale

Ilja geht gleichfalls, wenn auch viel früher als Sanja, in die Emigration und verliert damit seine große Liebe und zweite Ehefrau Olga, die, aus parteitreuem Elternhaus stammend, an dieser Trennung zerbricht. Mischa gerät in die Fänge des Geheimdienstes und muss Jahre im Straflager verbringen, während sein treuer Freund Sanja Mischas Frau Aljona und das kleine Kind unterstützt.

Aus Liebe zu Aljona, zu Russland und zur russischen Sprache weist Mischa nach seiner Entlassung jeden Rat, nach Israel auszuwandern, von sich, was sich als tragischer Fehler erweist. Olgas Schulfreundinnen Galja und Tamara zeigen andere Fluchtwege auf. Galja, fleißig, aber nicht gerade ein helles Köpfchen, heiratet nach einer gescheiterten Karriere als Leistungssportlerin einen KGB-Spitzel und flüchtet sich in die private Nische, während Tamara Brin in die Welt der religiösen Esoterik eintaucht und als Biologin in der Wissenschaft Großes erreicht.

In dreißig Kapiteln führt uns die Autorin durch Dutzende Helden- und Schurkenschicksale, gewährt Einblicke in Moskauer Wohnungen und Datschen, zeigt den oft verzweifelten Kampf, so etwas wie Bürgerlichkeit im besten Sinne des Wortes in den beengten Wohnungen zu bewahren oder alternative Lebensentwürfe zur kleinbürgerlichen sowjetischen Moral zu realisieren. Wie überwindet man dabei die Angst? Was heißen Mut und Gerechtigkeit in einem unfreien Land, und wie wird man erwachsen, wenn man gleichsam unter einer Glocke, einem grünen Zelt, lebt, das den Zustand der Unreife konserviert, was die Biologen als Neotenie bezeichnen? Das sind die Fragen, um die es hier geht.

Mit Scharfblick

Ludmilla Ulitzkaja schreibt mit leichter Feder, menschelnd, wohltuend altmodisch und mit viel Herz für ihre Helden, denen sie Züge von bekannten und weniger bekannten Oppositionellen verleiht und dabei natürlich auch Autobiographisches verarbeitet. Ulitzkajas Großvater war wie der Olgas mehrfach aus politischen Gründen verbannt worden. Sie selbst, eine studierte Biologin und Genetikerin, wurde, nachdem sie drei Jahre an der Akademie der Wissenschaften arbeitete, entlassen, weil sie verbotene Literatur vervielfältigt hatte. Sie schlug sich mit Arbeiten für ein jüdisches Theater durch, bevor sie im Alter von fast fünfzig Jahren 1992 den literarischen Durchbruch schaffte. Inzwischen sind ihre Bücher in siebzehn Sprachen übersetzt, verfilmt und mit Preisen ausgezeichnet worden.

Die Helden ihres neuen Buches sind wie deren Vorbilder „ohne Tadel, gestrauchelt oder in den Fleischwolf der Zeit geraten“, es waren „Standhafte und weniger Standhafte“ darunter, die Autorin hält sich mit Wertungen zurück. Sie erinnert an sie und blickt mit Scharfblick auf eine Epoche, die keine schöne war.

 



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